Ein Geheimtipp ist das Kreuzberger Restaurant am Paul-Lincke-Ufer nicht. Denn schon die Location alleine ist mehr als einen Besuch wert. Der charmant umwucherte Garten, der schlicht vertäfelte, schlicht stukkierte vordere Gastraum, der die minimalistische Behaglichkeit eines Wiener Nobelbeisls ausstrahlt, der anschließende dunklere Schlauch mit einer Enfilade von Speisetischen, Sichtachse auf die im verglasten Licht der offenen Küche schaffende Equipe. Kontrast: der Zyklus popbunter Wandmalereien von Jim Avignon, der das Lebensgefühl Babylon-Berlin antizipiert und zugleich in die Gegenwart transponiert. Bubi-Kopf-Frauen, Raffzähne im Otto-Dix-Stil, Cocktails, Kokain und Nierentischtresen. Mobiltelefon neben Jugend ohne Gott, dem 1937 erschienen Schlüsselroman des namengebenden ungarischstämmigen Dichters Ödön von Horváth, der im heutigen Rijeka geboren wurde und Deutsch als seine Muttersprache bezeichnete.
Der Name ist Programm. Er steht als Chiffre für die Küche Sebastian Franks, der in der Nähe des Neusiedler Sees aufgewachsen ist und sich dezidiert im ostösterreichisch-pannonischen Kulturraum verortet. Das beginnt mit der souveränen Beherztheit, ein magyarisches Mini-Lángos als Gruß aus der Küche zu servieren. Der in Öl gebackene und mit Knoblauch aromatisierte Fladen ist ein preisgünstiger Renner im Wiener Prater. Im Horváth wird er durch die winzige Volte, ihn mit Rohmilchbergkäse zu aromatisieren, alpinisiert und entbanalisiert. I am from Austria verkündet auch das Edelweißmodel, das die Brandenburger Fassbutter zum köstlichen Sauerteigbrotlaib prägt. Mut verrät die Entscheidung, dazu eins der scheinbar ärmlichsten Produkte zu reichen – gewürzter würziger Erdäpfelstampf, in den auch die vitaminreichen Schalen eingearbeitet sind. Geniale Cucina povera, die ich wegen ihrer bäuerlichen Eleganz wohl nie vergessen werde, ist der mit Butter und sparsam Vanille, sprich Knoblauch aufgeschäumte Kukuruz- sprich Maissud aus dem Rauhporzellanbecher – eigentlich eine Restebrühe, die in modernen Haushalten meist weggeschüttet wird. Chapeau für die pikante Anekdote, daß der Sternekoch als Bub die Kolben schon einmal vom Nachbarfeld stibitzte.
Ästhetisieren ist das Prinzip der französischen Haute Cuisine. Daß das Horváth diese Techniken aus dem Eff-Eff drauf hat, beweist das vegetarische Signature dish Pilzleber. Die köstlich milde Creme aus gerösteten Kräutersaitlingen ist wie die Trüffelkugel eines Pariser Confiseurs präzisiert. Daß der Chef rät, dazu unbedingt in einen mit Marillenkernölbutter bestrichenen Striezel zu beißen, gibt dieser hocheleganten Speise einen familiär-ländlichen Effet. Selten hat mich ein fleischfreies Ersatzrezept so überzeugt, die französischen Bausteine foie, Brioche und Sauternes sind witzig ins Österreichisch-Vegetarische transponiert – eine burgenländische Spätlese vollendete die Trias.
Überaschung beim Weinpairing. Wer fängt schon mit einem gekühlten Moselrotwein an? Doch der niedrigalkoholische Tropfen aus Pinot Noir und Regent erwies sich als inspirierender Begleiter zu einer Idee, die Spitzenküche wieder vom Schlichtesten her denkt. Suppengrün dekonstruiert könnte man es nennen, zerlegt in die Einzelteile. Bei diesem nur scheinbar vegetarischen Gericht blitzt wieder die hochmeisterliche Beherrschung aufwendigster Traditionen durch. Denn die hochkonzentrierte Aspik-Sauce, die zwei geschmorte Karottenstreifen umschmeichelt, ist nach einem großbürgerlichen Rezept aus dem Jahre 1879 fabriziert. Louise Seleskowitz listet in ihrem Wiener Kochbuch Zutaten auf wie Schinken, Kalbsfüße, Hasenfleisch (das dem Aspik die charakteristische Wildnote verleiht), Portwein und Madeira sowie tagelanges Einköcheln.
Fleisch wird nicht mehr in groben Stücken serviert, sondern als Essenz, das andere einzeln geschmorte „Grünzeug“ bleibt vegan. Ein kulinarischer Kunstgriff, der mich fast an die ätherischen Bouillons und Saucen der französischen Aufklärung erinnert.
Éljen a Magyar – ein bißchen scheint dieses Prinzip auch beim Pannonien getauften Gang durch. Die Puszta-Paradeiser werden im Cocktailglas arrangiert, mit Emulsion vom Gulaschgewürz (aber kein Fleisch!) betupft und stilecht mit perlendem Furmint angegossen.
Manege frei für das abschließende Schaugericht. Jahre hat Sebastian Frank gebraucht, bis er Knollensellerie durch einjähriges dry aging im Salzteig in eine reibefähige Substanz mit –tatsächlich — Crudo- und Parmesannoten verwandelte. Purismus pur: ein Carpaccio von anblanchierten Selleriescheiben, die mit gerösteten schwarzen Selleriesamen bestreut sind, vom Chef persönlich mit dem Jahrgangssellerie überhobelt, dazu der Aromenwechsel von süßsaurem Selleriechutney und milder Selleriebéchamel und ein Glas selbstgekelterter Selleriesekt. Eine virtuose Etude, die demonstriert, was man aus einem einzigen Gemüse herausholen kann.
Wir verraten es: Das Horváth ist extraterritorial, war immer schon österreichisches Hoheitsgebiet, stand für die gastronomische Mission unserer Nachbarrepublik in der preussischen Hauptstadt. An diesem Ort verwöhnte der wegen des Verdachts der Gotteslästerung aus Wien gerflüchtete Jazzmusiker und Aktionist Ossi Wiener die Berliner mit bodenständiger Beislkost, und vielleicht erdachte hier auch sein Landsmann Michael Würthle den Künstlertreff Paris-Bar. Unter der Ägide von Sebastian Frank ist jedenfalls die kulinarische verbesserung von mitteleuropa eindrucksvoll gelungen. Seine post-k.u.k. Küchenideen, die als Finale ein Kümmelbaiser vorsehen, setzen Maßstäbe der neuen Einfachheit und der vegetarischen Genußküche, nicht nur für das schnitzelfixierte Berlin, sondern auch für sein Heimatland Österreich.
HORVÁTH
Paul-Lincke-Ufer 44A
10999 Berlin
0049 30 61289992
www.restaurant-horvath.de
Mi-Sa ab 18:30