Seit Ferran Adrià 2011 sein Restaurant ElBulli im katalanischen Küstenort Roses für immer schloss, ist der weltweite Hype um die Molekularküche merklich abgeflaut. Sogar in Barcelona werben junge Chefs damit, cuina antimolecular zu fabrizieren. Wer trotzdem auf der Zunge spüren und erleben will, was das besondere dieses avantgardistischen Kochstils ausgemacht hat, der sollte sich einen Besuch des Enigma im bourgeoisen Stadtteil Eixample gönnen. In der mediterranen Metropole, wo das Brüderpaar Ferran und Albert einst seine Staunrezepte austüfteltete, hat Albert Adrià im Sommer 2022 seine Gralsburg der Molekularküche wieder eröffnet,

Gletscheratmosphäre mit viel Milchglas und grauen Natursteinen empfängt den Gast, der als erstes noch im Stehen mit einer Pilzconsommé im weißen Kristall- Becher begrüßt wird, über die Zesten von japanischer Sudachi-Agrume geraspelt werden: ein ätherischer Auftakt. Durch das Architekturlabyrinth wird man vorbei an Bar und komplett zum Salut angetretener Kochequipe zu Tische geführt. Dort wird man erst einmal mit der Frage nach Allergien genervt, die schon zweimal bei der elektronischen Buchung abverlangt wurde. Dafür wird das Bestellsystem eher mangelnd vorab kommuniziert. Es wird erwartet, dass entweder Menu oder tischweise mindestens 10 gleiche Gerichte, die sich preislich zwischen ca. 4 und 40 Euro bewegen, à la carte geordert werden,

Dass diese Regelung absolut Sinn macht, erschließt sich allerdings, sobald der erste Gang am Tisch präpariert und serviert wird. Die juwelenhaft angerichteten Gourmet-Kunstwerke sind nicht zum Teilen geeignet und die detallierte persönliche Präsentation jedes Ganges verlöre ihre Stimmigkeit bei zu vielen gleichzeitigen Speisen.

Es geht los mit Rauch und Magie und Nitro-Wolken. Two fingers one bite rät die camarera, die ungefragt wie fast alle hier nur auf Englisch kommuniziert. Die hauchdünne Xanthanpraline umhüllt einen erfrischenden Tropfen Sake-Juzu- Cocktail. Die parfumierte Variante mit der eleganten Kombi Earl Grey und Traubensaft wirkt ebenfalls federleicht und appetitanregend.

Köstlicher konservativer Kontrast: Das nächste Pairing ist eine ebenso schlichte wie durchdachte Abwandlung des Klassikers Insalata Caprese, nur dass hier eine überraschend sahnig mundende Soja-Burrata auf die frischen Pulpe einer roten südamerikanischen Tamarillo und einen Tropfen heimischen Olivenöls trifft. Vertrautes mit dem gewissen Kick! Pur und erlesen auch percebes, galicische Entenmuscheln, die in grün schillernde Petersilmayonnaise gedipt werden – schließlich gilt mahonesa als der wichtigste Betrag Spaniens zur Weltküche, hier apart abgewandelt.

Eyecatcher und kulinarisches Kabinettstückchen sind sashimiartig aufgeschnittene Rotbarbenfilets, die mit ihr winzigen Leber und einer knusprig frittierten Minigräte das Prinzip from nose to tail ichthyologisch uminterpretieren. Wildwachsende Blutreizker (rovellons), das ist das gebirgige und waldreiche Nordspanien auf dem Teller! Hier werden sie kühn in Kombu-Algen gewickelt und gebacken, mit einem hochkonzentrierten rauchig gegrillten Pilzsud überpinselt und mit galicischem Galmesano überstreut, der an Parmesan erinnert. Ein spannendes Fusionsgericht voll dunkler erdiger Tölne, das virtuos iberische mit japanischen Aromen zusammenschmiedet.

Man bemerkt es angesichts des Abwechslungsreichtums kaum. Das Menu kommt weitestgehend ohne Fleisch aus. Dafür zeigt der großmeisterlich eingekochte Hasenfond, in dem eine futuristisch anmutende Dango-Kugel mit gänzenden Kalix-Kaviar-Perlen floatet, dass es hier nicht um vegane Ideologie, sondern um Gespür für fligrane Nuancen geht.

Flirt mit Japan bleibt eine Konstante: würziger schwarzer Tintenfischsud umschmeichelt eine glibbrige grüne Riesenhohlnudel fast ohne Eigengeschmack, dafür mit dem schönen Namen kuzusuizen. Ein Gag, der eher optisch überzeugt, aber an die Wurzeln der Molekularküche erinnert: Stärke aus der Kuzu-Bohne ist die wichtigste Bio-Alternative, um geleeartige Strukturen zu zaubern. Auch die zarten katalanischen Erbsen mit Seegurke verblüffen außer ihrer Stecknadelkopfgröße durch zurückhaltende bis fade Würzung, die man angesichts des angekündigten Iberico-Jus nicht erwartet hatte.

Dafür blitzt zum Schluss noch einmal das Genie und kulinarische Querdenkertum der Adrià-Brüder auf. Das Vintage Dessert (ElBUlli1997!) aus Mangopulpe mit gummiartigen Molekular-Einlagen und weißer Schokomousse wird scheinbar von dunkler Schokopaste überzogen, die sich beim Hineinbeißen als salzkristallreiche Oliven-Tapenade entpuppt. Ein hinreißendes Crossover, das auch Jahrzehnte nach seiner Erfindung überrrascht und langanhaltende Geschmackserinnerinnerungen evoziert.

Fazit: Die Köchinnen und Köche des Enigma praktizieren eine Molekularküche soft, die chemische Texturen und Tricks zurückhaltend einsetzt und mit klassischer Kochkunst wie virtuos gezogenen Brühen konfrontiert. Regionalismus wird mit ausgesuchten world-Produkten kontrastiert. Japandialog sorgt für ästhetischen Mehrwert. Inszenierung samt persönlicher Ansprache und erklärendem Tischservice für jeden Gang stilisiert ein Essen zu einem überzeugenden Gesamterlebnis. Und bei einer Flasche Malkoa, einem vollmundigen Txakoli aus der autochthonen baskischen Weissweinrebe Hondarribi Zuri, vergißt man leicht das Befremden, dass ein Haus dieser Klasse kein spanisches Mineralwasser con gas ausschenkt.

ENIGMA
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